Beginnen wir mit einem kleinen Experiment. Woran denken Sie zuerst, wenn Sie das Wort Weltall hören? An Planeten vielleicht? Schwarze Löcher? Oder doch eher an Astronauten? Würde man Rainer Wansch diese Frage stellen, dürfte die Antwort wohl lauten: an Satelliten natürlich! An diese Flugkörper, die uns fern sind und doch stets ganz nah, während sie unaufhörlich ihre Kreise um die Erde ziehen. »Menschen ins All schicken? Das erachte ich nur für wenige Fragestellungen als sinnvoll«, sagt Wansch. Aber Geräte zu bauen, die in über 500 Kilometern Höhe fliegen, mit denen sich viele Individuen gleichzeitig erreichen und vernetzen lassen, das begeistert den Mann, der seit 1996 am Fraunhofer IIS forscht.
Als der Heinrich-Hertz-Satellit in Richtung Himmel steigt, da verwandelt sich die Begeisterung in Realität. Das Warten hat ein Ende. Der Fraunhofer On-Board-Prozessor (FOBP), ein Herzstück des Satelliten, befindet sich nun im Weltall. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines der bedeutendsten Projekte in Rainer Wanschs wissenschaftlicher Laufbahn. Ein Projekt, das auch deshalb gelingen konnte, weil sein Team selbst dann hartnäckig blieb, als es kompliziert wurde.
Das Jahr 2008: Smartphones sind noch eine Weltneuheit, der globale Mobilfunkstandard lautet 3G und in Deutschland entsteht ein Plan, der die Rückkehr des Landes auf den Markt der Kommunikationssatelliten wagt. Heinrich Hertz, so heißt die Raumfahrt-Mission, die eine Plattform zum Forschen ins All bringen soll. Soweit die Theorie. Doch große Ideen lassen sich oftmals nur verwirklichen, indem man sie in viele kleine zerteilt. Wie soll er aussehen, wie soll er ausgestattet werden, zu was soll er fähig sein – kurzum: Wie lässt sich der Heinrich-Hertz-Satellit zum Leben erwecken? Industrie und Forschung machen sich bereit. Das Wettrennen um die besten Einfälle hat begonnen.
Die Geburt des On-Board-Prozessors
Auch das Fraunhofer IIS will beim kollektiven Brainstorming mitmischen. Die Institutswelt sieht damals noch ein bisschen anders aus. Der Institutsleiter heißt Heinz Gerhäuser. Einen Bereich »Kommunikationssysteme« sucht man vergebens, stattdessen findet man Einzel-Abteilungen, die auf Namen wie »Nachrichtenübertragung« und »Hochfrequenztechnik« hören. Und Rainer Wansch ist in diesem Jahr 2008 noch kein Abteilungsleiter, sondern ein Gruppenleiter, der sich vorrangig mit Antennen beschäftigt.
Er gehört damals zu den Personen, die das Zusammenführen der Fraunhofer-Ideen koordinieren. »Wir haben uns intern überlegt, wozu Technologien auf dem Satelliten imstande sein müssten«, erinnert sich Wansch. Schließlich entsteht eine Liste mit fünf Vorschlägen. Von gesteuerten Antennen ist dort die Rede. Magnetfeld-Sensoren stehen auf der Liste. Und eben auch: ein On-Board-Prozessor. Dieser soll nicht nur Signale digital verarbeiten, sondern zudem dafür sorgen, dass die Nutzlast jederzeit vom Boden aus angesteuert werden kann. Während der technologische Fortschritt auf der Erde unablässig voranschreitet, lässt sich der Satellit entsprechend umprogrammieren und bleibt somit auch im All stets auf der Höhe der Zeit.
Backnang, eine Kleinstadt in der Nähe von Stuttgart: Im Jahr 2009 findet hier der Workshop statt, der über die Zukunft des Heinrich-Hertz-Satelliten entscheidet. Jetzt wird sich zeigen, welche der vielen Ideen sich durchsetzen, welche ins All dürfen und welche am Boden bleiben müssen. Etwa 150 Vertreter aus der Raumfahrt- und Satelliten-Branche haben sich versammelt, um ihre Pitches zu präsentieren. Auch Rainer Wansch ist dabei. Vier von fünf Vorschlägen, die das Fraunhofer IIS vorbereitet hat, überleben die Auslese nicht. Doch über dem On-Board-Prozessor steigt fiktiver weißer Rauch auf. »Und dann ging die harte Arbeit los«, sagt Wansch.
Der Gang durchs Labyrinth
Wissenschaft, das ist selten ein linearer Prozess, der sich von Anfang bis Ende determinieren lässt. Wissenschaft verläuft vielmehr in Wellen, in Höhen und Tiefen, in Fragen, die zu Antworten führen, und Antworten, die zurück zu Fragen führen. Man kann es auch mit dem Gang durch ein Mais-Labyrinth vergleichen. Überall lauern Sackgassen und verwinkelte Wege, die die Beteiligten wieder zum Ausgangspunkt zurückzwingen. Und nicht immer ist klar, was sich hinter der nächsten Ecke verbirgt.
Es ist eine Erfahrung, die auch Rainer Wansch und sein Team schon bald machen werden. Sie müssen die Logik der Raumfahrt durchdringen, sich tief einlesen in die Begrifflichkeiten, die Formulare, die Dokumentationen. Belegen, Begründen, Beantragen. »Es war eine steile Lernkurve, die wir hingelegt haben«, sagt er. Die Field Programmable Gate Arrays (FPGAs), ein zentrales Element des FOBPs, werden aus den USA bestellt, sind dort allerdings höchst ausfuhrbeschränkt. Spezial-Genehmigungen werden beantragt und erteilt. Ein geheimer Aufbewahrungsort wird gesucht. »Bei der Ankunft der FPGAs sahen wir alle noch deutlich jünger aus«, scherzt Wansch.
Als ab dem Jahr 2012 schließlich der Bau des FOBPs beginnt, schwebt eine Frage wie ein Damoklesschwert über allen anderen. Es ist die Frage, die jeder Baustein des Heinrich-Hertz-Satelliten beantworten muss: Schön und gut, wenn es am Boden läuft, aber überlebt die Technologie auch unter den Extrembedingungen des Weltalls? Beispiel gefällig? »Plötzlich ist eine Software bei null Grad nicht angesprungen, während es bei -20 oder +20 Grad problemlos funktioniert hat«, sagt Wansch. Detailarbeit ist also gefragt. Und ein langer Atem.
Plötzlich ein Herzstück
März 2017, in Bonn findet die nationale Satellitenkonferenz statt, doch der deutsche Kommunikationssatellit fliegt noch immer nicht. Der Start, ursprünglich auf 2015 angesetzt, musste verschoben werden. Inzwischen hat sich etwas verändert, das merkt Rainer Wansch während der Gespräche, die er auf der Konferenz führt. Denn einige der Komponenten, die sich damals auf dem Workshop in Backnang durchsetzen konnten, sind inzwischen woanders mitgeflogen. Wansch und seinem Team wird allmählich bewusst: Ihre Idee, einst eine unter vielen, rückt plötzlich immer mehr ins Zentrum der Mission. Je weiter sich der Launch nach hinten schiebt, umso bedeutender scheint der FOBP zu werden. Zwei Jahre später besucht Wansch dieselbe Konferenz und stellt den On-Board-Prozessor als eine Plattform vor, die Experimente mit 5G ermöglicht. »Viel mehr als wir jemals gedacht hätten«, sagt er heute. Die Wissenschaftler des Fraunhofer IIS sind am FOBP gewachsen. Und der FOBP mit ihnen.
Wenn in diesem Artikel immer wieder vom Team die Rede ist, dann darf man sich darunter nicht zwangsläufig eine feste Formation aus Individuen vorstellen. Rainer Wansch selbst spricht von drei Generationen, die das Projekt über die Jahre hinweg begleitet haben. Die erste Generation, die konzeptionierte und designte. Die zweite Generation, die baute und implementierte. Und letztendlich die dritte Generation, die testete und noch mehr testete – und auch heute noch am Fraunhofer IIS arbeitet. Es ist wie so oft im Leben: Hartnäckigkeit, zumal generationsübergreifende, zahlt sich irgendwann aus. Während die Corona-Pandemie das Land im Herbst 2020 fest im Griff hat, kann der FOBP endlich losgelassen werden. Das große Testen geht zwar munter weiter, jetzt aber zusammen mit den anderen Heinrich-Hertz-Bestandteilen. Temperatur, Schock, Vibration. Gleich mehrmals sind die Forscher im Land unterwegs. »Wir mussten immer wieder nachweisen: Funktioniert er noch?«, sagt Wansch. Er funktioniert.
Wissenschaftler, die schon im jungen Alter im All forschen, an Projekten, die sich anschließend wie ein roter Faden durch ihre Karriere ziehen, das hat Rainer Wansch schon immer fasziniert. Der FOBP hat diese Faszination mit Leben gefüllt. »Mein Ziel ist es, dass die Welt am Boden besser wird«, sagt er. Auch deshalb ist das Projekt noch lange nicht am Ende. Ganz im Gegenteil. Im Weltall dient der FOBP schon bald als eine Art Labor, das Industrie und Forschung gemeinsam mit dem Fraunhofer IIS für ihre eigenen Experimente buchen können. »Jetzt beginnt eine andere Art von Spannung«, sagt Wansch. Jedes Experiment, jede Erkenntnis, jede Entdeckung könnte ein kleines Schlaglicht nach vorne werfen, ein Stück mehr Klarheit bringen, bis sich aus den Konturen ein Gesamtbild ergibt und die Zukunft der Satellitenkommunikation zum Vorschein kommt.