Wie der Mobilfunk zum Klimaschützer wird

5. September 2024 | Weniger Energieverbrauch dank Network Energy Saving

Der Energieverbrauch der 5G- und 6G-Netze könnte in Zukunft dramatisch ansteigen. Am Fraunhofer IIS erforscht deshalb ein Team, wie sich der Mobilfunk mit einem eigenen Schlafrhythmus ausstatten lässt. Network Energy Savings nennt sich das. Was steckt dahinter?

Würde es den Schlaf nicht bereits geben, man müsste ihn erfinden. Nacht für Nacht begeben sich Menschen in diesen temporären Zustand des Unbewussten, der den Körper äußerlich herunterfährt, um ihn innerlich zu reparieren, seine Ressourcen rationiert, um sie später umso stärker zu nutzen. Emotionales wird verarbeitet, Gelerntes verankert, Überflüssiges entrümpelt, bevor der Wecker klingelt und neue Kräfte zur Verfügung stehen. Ein Wunderwerk der Effizienz. Und eine Inspirationsquelle, die schon bald dafür sorgen könnte, dass der Mobilfunk klimaneutral wird.

Mobilfunk, Schlaf und Klimarettung – drei Bereiche, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu verbinden scheint. Wer den zweiten Blick wagen will, fragt bei Elke Roth-Mandutz nach. Sie gehörte mit ihrer Doktorarbeit einst zu denen, die sich unter dem Schlagwort der »Self-Organizing Networks« der Idee eines nachhaltigen Mobilfunks widmeten. Zu einer Zeit, als die LTE-Generation im Anflug war und die Forschung erkannte: Der Energieverbrauch der Netze ist zu hoch! Kurzzeitig sah es tatsächlich so aus, als würde Bewegung in die Sache kommen. »Doch damals sind die Energiepreise wieder gesunken, die Vorschläge konnten sich nicht durchsetzen«, erinnert sich Roth-Mandutz. Das Momentum verpuffte. Die wissenschaftlichen Debatten verhallten in den Mauern der Theorie.

Viel Fortschritt, viel Energie

 

Als das Thema einige Jahre später wieder auf ihrem Tisch landet, hat sich vieles verändert. Nicht nur bei Roth-Mandutz selbst, die mittlerweile am Fraunhofer IIS als Teil einer Doppelspitze der Gruppe »Mobile Communications« fungiert, sondern vor allem auch im politisch-gesellschaftlichen Umfeld. Warnende Prognosen, das Klimaabkommen von Paris, der European Green Deal. Neue Ziele, neue Erwartungen, neue Hoffnungen. Weltweit arbeiten Menschen an technologischen Lösungen, um den CO₂-Ausstoß bis zum Jahr 2050 zu neutralisieren. Das Handlungsfenster ist wieder geöffnet, der Handlungsdruck jedoch umso größer.

Der Mobilfunksektor wächst weltweit rasant. Während der 5G-Standard derzeit etabliert wird, schimmert mit 6G bereits der nächste Hoffnungsträger am Technologie-Horizont. Klar ist, dass die neuen Generationen ein Mehr an Fortschritt bedeuten: mehr Vernetzung, mehr Services, mehr Anwendungen. Doch jedes intelligente Fahrzeug, jede Virtual-Reality-Brille, jeder digitale Zwilling bedeutet eben auch: mehr Energie, die verbraucht wird, mehr Treibhausgase, die ausgestoßen werden. »Wenn wir keine Gegenmaßnahmen ergreifen, wird der globale Stromkonsum in den 2030er-Jahren endgültig durch die Decke gehen«, sagt Roth-Mandutz.

Jede Lösungsfindung beginnt mit einer Ursachensuche. Blickt man also genauer hin, an welcher Stelle der hohe Energieverbrauch des Mobilfunks seinen Ursprung hat, ist der Verantwortliche schnell enttarnt. Über 70 Prozent des Stromverbrauchs in den Netzen verursachen die Basisstationen. Denn die Mobilfunkmasten befinden sich in einem fortlaufenden Zustand der Hyperaktivität. Meist hellwach, sogar dann, wenn sich gerade keine Endgeräte in der Nähe befinden, die auf die Kapazitäten angewiesen wären. Energie wird freigesetzt, aber keinem Zweck zugeführt. Sie wird verschwendet. »Das ist völlig sinnfrei«, sagt Roth-Mandutz. »Zumal wir bei vielen Basisstationen enorme Nutzungsschwankungen feststellen können«.

Insbesondere in der Nacht, wenn sich die meisten Smartphones in einen stundenlangen Stand-by-Modus begeben, beruhigt sich der Datenverkehr deutlich. Hinzu kommt eine lokale Dimension. Ein Mobilfunkmast, der in der Nähe eines Fußballstadions steht, läuft auf Hochbetrieb, wenn am Wochenende der Ball rollt und Tausende von Zuschauern auf den Tribünen mitfiebern. Unter der Woche hingegen herrscht an einem solchen Ort beinahe Funkstille. Wäre es also nicht sinnvoller, ein Mobilfunknetz zu haben, das seine Ressourcen schont, um sie dann zu entfalten, wenn es der Bedarf erfordert? »Network Energy Savings« lautet das Stichwort, unter dem das Team um Roth-Mandutz seit zwei Jahren am Fraunhofer IIS intensiv forscht. Die Idee dahinter: Einzelne Hardware-Komponenten – Mini-Zellen, Carriers oder Beams – werden abgeschaltet, solange sie nicht benötigt werden. Sie werden Schlafen geschickt.

© Fraunhofer IIS / Paul Pulkert
Nicht nur die Industrie profitiert: Eine Storchen-Familie nistet auf einer Basisstation.

Schlummernde Basisstationen

 

Schläft ein Mensch, dann ist das weniger ein gleichförmiger Prozess, sondern vielmehr ein rhythmisches Pendeln zwischen unterschiedlichen Phasen. Vom Leichtschlaf in den Tiefschlaf. Vom Tiefschlaf in den REM-Schlaf. Und wieder von vorne. Einen ähnlichen Schlafrhythmus soll in Zukunft auch der Mobilfunk erhalten. Die Forschung differenziert hier zwischen Mikro-, Leicht- und Tiefschlaf. Je tiefer der Schlafmodus, umso mehr Hardware-Komponenten schließen ihre Augen, umso weniger Energie wird verbraucht. Wird nun ein Endgerät in der Nähe einer solchen schlummernden Basisstation aktiv, könnte es ein sogenanntes Wake-Up-Signal schicken, das man sich wie einen Wecker vorstellen kann, der die Hardware aus ihrem Schlaf reißt und zurück in die funkende Realität befördert.

Eine Herausforderung ist allerdings der periodische Broadcast. Dieser sorgt dafür, dass Basisstationen immer wieder Signale senden – zum Beispiel, um die Endgeräte zu synchronisieren. Wie ein Wecker, der in viel zu kurzen Abständen klingelt. Weil ein Schlaf, der andauernd unterbrochen wird, nicht effektiv ist, könnten die Zeiträume, in denen die Synchronisierung der Endgeräte erhalten bleibt, verlängert werden. Von alldem soll der Nutzer wiederum nichts mitbekommen. »Deshalb setzen wir bei den Übergängen zwischen den einzelnen Schlaf- und Wachphasen auf intelligentes Finetuning«, erklärt Roth-Mandutz, die auch weiß: Kein Netzbetreiber wird auf Network Energy Savings setzen, wenn darunter die Qualität der Datenübertragung leidet. Und ohne Netzbetreiber kein nachhaltiger Mobilfunk.

Das Rennen gegen die Zeit

 

Egal wie bedeutend eine Sache von außen erscheint, oftmals braucht es noch einen kleinen Anstoß, einen letzten Schub, der ein Problem für alle fühl- und spürbar macht. Der entscheidende Schubser für Network Energy Savings kommt mit der sich verschärfenden Energiekrise, die die Energiekosten förmlich explodieren lässt. Zum Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit gesellt sich plötzlich ein handfestes materielles Interesse: die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Bis zu 50 Prozent der Betriebskosten, die ein Netzbetreiber zahlt, sind mittlerweile Energiekosten. »Diese müssen sinken, um international konkurrenzfähig zu bleiben«, erklärt Roth-Mandutz. Der Forscherin ist nicht entgangen, dass das Interesse an einem stromsparenden Mobilfunk zuletzt deutlich an Fahrt aufgenommen hat. Auch dort, wo sich bald entscheiden wird, ob die am Fraunhofer IIS erforschten Verfahren die Mauern der Theorie überwinden und ihren Weg in die Praxis finden: im 3GPP-Gremium.

Hier versammeln sich die kleinen und großen Player der Branche, von Apple über Qualcomm bis hin zur Deutschen Telekom. Hier werden alle technischen Fragen rund um den Mobilfunk debattiert, verhandelt und abgestimmt. Keine Innovation landet im künftigen Standard, ohne sich vorher im Gremium behauptet zu haben. Auch das Fraunhofer IIS mischt mit seinen Ideen mit. »Da ist viel diplomatisches Geschick gefragt«, erzählt Roth-Mandutz. »Und es ist ein Rennen gegen die Zeit«. Denn sobald ein neues Thema wie Network Energy Savings eingeführt wird, müssen die Beteiligten ihre Beiträge unter hohem Zeitdruck ausarbeiten.

Um einen Schritt voraus zu sein, haben Roth-Mandutz und ihr Team einen Simulator für Network Energy Savings entwickelt. Dieser ermöglicht es, die verschiedenen zur Debatte stehenden Schlaftechniken anhand unterschiedlicher Szenarien auf ihre Effekte hin zu untersuchen und die vielversprechendsten Varianten auszuwählen. Mit welchem Verfahren lässt sich besonders viel Energieeinsparung erzielen ohne die Netzwerkqualität zu beeinträchtigen? »Die Ergebnisse untermauern unsere Beiträge im 3GPP-Gremium und verleihen ihnen noch mehr Gewicht«, sagt Roth-Mandutz. Der Simulator wird somit zum Legitimationshelfer, der potenzielle Realitäten sichtbar macht und den Netzbetreibern dabei hilft, vorhandene Bedenken auszuräumen.

Roth-Mandutz ist optimistisch, dass die Ideen ihrer Gruppe am Ende die Oberhand behalten, dass sich die Kraft der Überzeugung durchsetzen wird. Sie hat das bei ihren eigenen Mitarbeitenden beobachtet: »Je intensiver sich jemand eingelesen, je tiefgehender sich jemand mit der Thematik befasst hat, umso sensibler wurde die Person dafür«, erzählt die Forscherin. Dass der Schlaf ein untrennbarer Teil des menschlichen Alltags ist, bezweifelt niemand mehr. Geht es nach Elke Roth-Mandutz und ihrem Team dürfte dasselbe schon bald für den Mobilfunk gelten. Oder anders formuliert: Würde es die Idee der schlafenden Basisstationen nicht bereits geben, man müsste sie erfinden.

Das könnte Sie auch interessieren

 

Angewandte Forschung für Nachhaltigkeit

Projekte des Fraunhofer IIS mit nachhaltigen Lösungen

 

22.6.2023

Power-Erfinderinnen am Fraunhofer IIS: Dr. Elke Roth-Mandutz - 5G kann noch besser werden

 

Satellitenkommunikation

Satellitenintegration in 5G und 6G

 

Kommunikationssysteme

 

Serie: Digital. Nachhaltig. Fraunhofer IIS.

Mikroelektronische Entwicklungen und Systeme ermöglichen Energieeinsparungen, effiziente Nutzung von elektronischen Geräten und Anlagen und nachhaltige digitale Geschäftsmodelle.  

Kontakt

Sie haben Fragen, Kommentare oder Anmerkungen zum Fraunhofer IIS Magazin?

Schreiben Sie uns eine E-Mail.

Immer informiert

Der Newsletter zum Magazin

Abonnieren Sie den Newsletter des Fraunhofer IIS Magazins und erhalten Sie alle neuen Themen kompakt per Mail.

Startseite

Zurück zur Startseite des Fraunhofer IIS Magazins