Frischer Wind für Digital Health-Technologien

Bei der Entwicklung digitaler Medizin legt das Fraunhofer IIS den Fokus auf die Verlaufskontrolle von chronisch Kranken. Dieses Know-how kam in der Pandemie zwei Projekten im Fraunhofer-Anti-Corona-Programm zugute: der Pandemie-Management-App für Gesundheitsämter und der Konzeption eines mobilen Überwachungssystems für COVID-19-Erkrankte auf Normalstationen.

 

Es sind nur sehr wenige Branchen, die sich in dem Pandemie-Jahr besser entwickeln. Die digitale Medizin gehört auf jeden Fall dazu. »In der Politik und in der Bevölkerung gibt es einen Bewusstseinswandel zur digitalen Medizin«, betont Dr. Christian Münzenmayer, Abteilungsleiter Bildverarbeitung und Medizintechnik am Fraunhofer IIS. »Für zusätzlichen Rückenwind sorgte das Digitale-Versorgung-Gesetz, das Ende 2019 in Kraft getreten war.«

Apps auf Rezept für chronisch Kranke

Christian Münzenmayer setzt in das Digitale-Versorgung-Gesetz viele Hoffnungen. Denn es ermöglicht die Erstattung digitaler Gesundheitsanwendungen durch die Krankenkassen. Dazu gehören auch die Technologien, an denen das Team des Fraunhofer IIS arbeitet.

Wie z. B. der Digitale Patientenmanager, kurz DPM. »Wir schaffen eine dezentrale Infrastruktur für die medizinische Kommunikation«, erklärt der Abteilungsleiter. Die Daten werden also nicht in einer zentralen Datenbank gespeichert, sondern auf dem Smartphone oder Computer der Patientinnen und Patienten.

© Fraunhofer IIS
Mobil vernetzt im Gesundheitssystem mit dem Digitalen Patientenmanager

Sie behalten dadurch die Hoheit über ihre Daten und können entscheiden, mit wem sie diese Daten teilen möchten. An den Digitalen Patientenmanager können Apps und Sensoren gekoppelt werden, die den Gesundheitszustand von chronisch Kranken aufzeichnen. Der Digitale Patientenmanager ist im Rahmen des Mobile Health Labs entstanden, Letzteres wird durch das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie gefördert.

Chronisch Kranke gehen meist punktuell zum Arzt, häufig nur einmal im Quartal. Wie es ihnen in der Zeit dazwischen geht, bleibt häufig im Dunkeln. Hier setzen die intelligenten Lösungen des Medizintechnikteams des Fraunhofer IIS an. Im Prinzip bestehen sie aus einer App, in die die Kranken eingeben, wie es ihnen geht und welche Symptome sie haben. Ergänzt werden diese Informationen durch die Daten einer Sensorik, die speziell auf die Krankheit abgestimmt ist. In Kooperation mit dem Universitätsklinikum Erlangen und der Portabiles HealthCare Technologies GmbH arbeitet das Fraunhofer IIS auch an einer Lösung für Parkinson Erkrankte, die Bewegungsdaten aus einem in den Schuh integrierten Sensor analysiert. Aufgrund dieser Daten kann der Arzt oder die Ärztin die Therapie überwachen. Das Parkinson-Projekt wird unter anderem von der EU-geförderten Initiative EIT Health getragen.

Kognitive Sensorik verbessert Diagnose von Vorhofflimmern

»Mit CardioTEXTIL entwickeln wir eine alltagstaugliche, intelligente Sensorik für die Kardiologie, speziell für Menschen mit Vorhofflimmern«, berichtet Christian Münzenmayer. Rund zwei Millionen Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz leiden unter dieser tückischen Herzrhythmusstörung, die meist sporadisch auftritt und auch das Risiko für einen Schlaganfall stark erhöht. Um dieses Risiko zu senken, werden die Patientinnen und Patienten in der Regel mit blutverdünnenden Medikamenten behandelt. Tückisch ist die Erkrankung, da das Auftreten von Vorhofflimmern häufig nicht bemerkt und daher auch keine adäquate Therapie eingeleitet wird.

Diese diagnostische Lücke soll CardioTEXTIL schließen – durch ein Langzeit-EKG über Wochen oder sogar Monate. Basis für die Entwicklung ist das vom Fraunhofer IIS bereits vor einigen Jahren vorgestellte FitnessSHIRT, bei dem EKG-Elektroden in ein eng anliegendes Shirt integriert sind. Im Gegensatz zum FitnessSHIRT liefert CardioTEXTIL die EKG-Daten in medizinischer Qualität. Die Elektroden sind in ein Gurtsystem integriert, das man bequem unter der Kleidung tragen kann. Auf dem Rücken befindet sich eine kleine Elektronikeinheit, die die EKG-Signale aufnimmt und an das Smartphone des Trägers sendet. Energiesparende Implementierungen von KI-Verfahren, die auch auf stromsparenden Embedded-Prozessoren laufen, werden hier künftig schon in der Elektronikeinheit EKG-Signale auswerten und relevante Events erkennen. Derzeit existieren bereits zehn Prototypen des CardioTEXTIL, die das Team nächstes Jahr an Probandinnen und Probanden testen will.

 

»In der Politik und in der Bevölkerung gibt es einen Bewusstseinswandel zur digitalen Medizin.«

Dr. Christian Münzenmayer, Abteilungsleiter Bildverarbeitung und Medizintechnik

 

Pandemie-Management-App für Gesundheitsämter

Das Know-how zur Erfassung medizinischer Daten im Alltag nutzte die Medizintechnik-Abteilung gemeinsam mit dem Industriepartner NeuroSys GmbH zur Entwicklung einer Pandemie-Management-App für die Gesundheitsämter. »Die Kontaktverfolgung seitens der Gesundheitsämter erfordert eigentlich die tägliche Abfrage von Gesundheitsdaten, beispielsweise Temperatur, Puls oder Symptome, was personell kaum mehr zu leisten ist«, beschreibt Christian Münzenmayer. Die Pandemie-Management-App kann hier eine große Arbeitserleichterung bringen. Denn sie ist so konzipiert, dass die Kontaktpersonen ihre Daten selber eingeben und automatisch an das Gesundheitsamt übermitteln. Die telefonische Nachverfolgung könnte sich dann auf Fälle konzentrieren, bei denen die Daten auf eine kritische Entwicklung hindeuten.

 

Das Projekt »M3Infekt« – besseres Monitoring bei COVID-19

Wenn COVID-19-Patienten und Patientinnen auf der Normalstation im Krankenhaus liegen, kann es sehr schnell zu lebensgefährlichen Verschlechterungen kommen. Ein kontinuierliches Monitoring von Vitalparametern ist allerdings nur auf Intensivstationen verfügbar. Um für diesen Patientenkreis ein Monitoring-System zu entwickeln, schlossen sich zehn Fraunhofer-Einrichtungen und vier Kliniken zusammen und starteten im September das Projekt »M3Infekt«. M3 steht dabei für multimodal, modular und mobil. Multimodal bedeutet, dass das System mit verschiedenen Sensormodulen ausgestattet ist. Bestimmt werden zum Beispiel EKG, Sauerstoffsättigung und Atemfrequenz. Das Fraunhofer IIS koordiniert das Projekt und bringt das CardioTEXTIL sowie die KI-basierte Biosignalanalyse ein. »Von dem Monitoring-System werden auch Patientinnen und Patienten mit anderen schweren Infektionskrankheiten, etwa Influenza oder Sepsis profitieren«, betont Christian Münzenmayer. »Die Förderung im Anti-Corona-Programm der Fraunhofer-Gesellschaft ermöglicht uns hier eine Entwicklung, die auch über die aktuelle Pandemie hinaus hochrelevant ist.«

 

 

 

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Pandemie-Management-App zur Unterstützung von Gesundheitsämtern
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Textiles Mehrkanal-EKG für den mobilen Einsatz
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Bequeme Langzeitmessung ohne Klebeelektroden