Funktechnologien können Produktionshallen effizienter und dynamischer machen. Doch die Herausforderung ist enorm: Alle Daten müssen dafür zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort landen. Kann Time-Sensitive Networking den Durchbruch bringen?
09. April 2025
Funktechnologien können Produktionshallen effizienter und dynamischer machen. Doch die Herausforderung ist enorm: Alle Daten müssen dafür zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort landen. Kann Time-Sensitive Networking den Durchbruch bringen?
Wer einen Schritt in eine Fabrikhalle macht, betritt eine Welt, die nach ihren ganz eigenen Regeln funktioniert. Strikte Produktionsabläufe, strenge Qualitätskontrollen, moderne Maschinen und hochspezialisierte Arbeitskräfte. Ein Zahnrad greift ins andere, eine Handlung bedingt die nächste, immer mit dem Ziel, dass die Produktion zügig fortschreiten kann. Zum Beispiel auf einem Förderband, das Bauteile transportiert. Eine Bildkamera hängt darüber und wirft einen kritischen Blick auf jedes einzelne Objekt, das an ihr vorbeizieht. Registriert die Kamera einen Mangel, wird sofort Druckluft aktiviert, um das defekte Bauteil in einen Müllkorb zu befördern. Doch diesmal kommt es zu einem Fauxpas: Die Daten werden nicht rechtzeitig übertragen, die Druckluft bläst ins Leere, das Band muss anhalten. Ein kurzer Augenblick reicht, um diese Welt mit ihren ganz eigenen Regeln zum Stillstand zu bringen.
Derartige Produktionsausfälle sind kostspielig. Um ihnen etwas entgegenzusetzen, suchen Fertigungs- und Industrieunternehmen stets nach dem entscheidenden Mehr an Effizienz, das die Zahnräder noch wirksamer ineinandergreifen lässt. Und diese Suche führt schnurstracks in den Bereich des Funks. Denn im Gegensatz zu den bislang dominierenden Kabelverbindungen ist die drahtlose Kommunikation mit deutlich geringeren Wartungs- und Reparaturkosten verbunden. Noch entscheidender: Funktechnologien können ihre Finger in jeden noch so entfernten Winkel einer Produktionshalle ausstrecken. Dadurch lassen sich mobile Elemente wie »Automated Mobile Robots« (AMRs) oder »Automated Guided Vehicles« (AGVs) integrieren, die autonom durch eine Fabrik fahren und Material transportieren. In die sonst so starren Abläufe der industriellen Kommunikation mischt sich plötzlich ein Hauch von Dynamik, der die Produktion beschleunigt und flexibilisiert. Aber wie das eben immer so ist: Große Chancen sind große Herausforderungen.
Was das konkret bedeutet, weiß Frank Burkhardt nur allzu gut. Der Leiter der Gruppe »Industrial Communications« hat am Fraunhofer IIS über viele Jahre hinweg den Echtzeitfunk im Produktionsumfeld erforscht. Mit seinem Team hat er dabei immer höhere Geschwindigkeiten erreicht, die Latenzzeiten immer weiter gedrückt, bis in die Sphäre der Mikrosekunden hinein. Doch irgendwann reifte die Erkenntnis: Das reicht noch nicht. »Ein schneller Funk nützt uns wenig, wenn das Netzwerk dahinter nicht deterministisch ist«, sagt Burkhardt. Deterministisch heißt: Alle Daten landen zuverlässig zum exakt richtigen Zeitpunkt am exakt richtigen Ort – und zwar auch dann, wenn immer mehr Dynamik, Mobilität und Unberechenbarkeit in einer Fabrik um sich greifen. Deshalb erforscht Burkhardt nun Time-Sensitive Networking (TSN), eine Technologie, die Funk und Determinismus zusammenbringt.
Will man verstehen, wie TSN funktioniert, stellt man sich zunächst die Antithese zur Produktionswelt vor: eine fiktive Stadt, in der weder Ampeln noch Verkehrsregeln oder Verkehrsschilder existieren. Die Autos blockieren sich an den Kreuzungen gegenseitig, das Recht des Stärkeren dominiert, überall schrilles Hupen, Chaos bricht aus. Zufall und Willkür entscheiden jetzt darüber, welches Fahrzeug sein Ziel pünktlich erreicht, ob der Krankenwagen seinen Notfall-Patienten rechtzeitig ins Krankenhaus bringen kann oder stattdessen im Stau versinkt. Hier würde niemand leben wollen.
Raus aus der fiktiven Stadt, zurück in die Fabrik. Hier sind es keine Fahrzeuge, die losfahren und ein Ziel erreichen wollen, sondern Datenpakete. Sogenannte »Talkers« schicken ihre Daten, diese wandern auf Datenkreuzungen über »Bridges« und werden schließlich von »Listeners« empfangen. Mit Time-Sensitive Networking entsteht nun eine zentrale Instanz, eine Art Verkehrspolizist, der jedem Datenpaket eine eigene Ampel zuweist, auf Grün oder Rot schaltet und damit entscheidet, wann welches Paket die Kreuzung passieren darf. Denn so wie es im Straßenverkehr Fahrzeuge gibt, deren Pünktlichkeit besondere Priorität hat – man denke etwa an den Krankenwagen mit Notfall-Patient – so gibt es auch in der Produktionshalle Datenpakete, die für die Abläufe derart essenziell sind, dass sie sich keine Verspätung erlauben dürfen.
Alles missionskritische, alles sicherheitskritische erhält daher Vorfahrt. Beispielsweise Druckluft, die ein als mangelhaft erkanntes Bauteil entfernen soll, weil ansonsten die Produktion zum Stillstand kommt. Oder ein fahrendes AGV, das rechtzeitig auf die Bremse treten muss, wenn sich eine Mitarbeiterin nähert und ein gefährlicher Zusammenstoß droht. »TSN bucht verschiedene Zeitfenster, weist den Datenpaketen je nach ihrer Relevanz eine Verkehrsklasse zu und garantiert für jede Verkehrsklasse eine bestimmte Datenrate«, erklärt Burkhardt. »Durch diese Zeitsynchronisierung entsteht dann eine feste Taktung.«
Wie das alles im Detail reibungslos funktionieren kann, ist Teil der Forschung, die Burkhardt am Fraunhofer IIS vorantreibt. Denn noch ist das Spannungsfeld der wachsenden Mobilität in einem statischen Umfeld nicht vollständig gelöst. »Dynamische Prozesse innerhalb eines deterministischen Netzwerks sind ein kritisches Thema«, sagt Burkhardt. Normalerweise herrscht in Fabriken eine feste Netzwerktopologie: Die Daten der Maschinen und Geräte werden stets über eine fixe Route an ihre Kontrollrechner geschickt. Mobile Elemente entziehen sich jedoch dieser Logik. Sie forcieren eine Variabilität, die im System bisher nicht vorgesehen ist.
Setzt sich etwa ein autonom fahrender Roboter in Bewegung und entfernt sich aus seinem angestammten Radius, muss eine Basisstation aus einem anderen Sektor den Staffelstab übernehmen und die Konnektivität aufnehmen. »Wir untersuchen derzeit, wie ein Handover zwischen Basisstationen mit Time-Sensitive Networking gelingen kann«, sagt Burkhardt. Derartige fliegende Wechsel könnten auch die Resilienz des Gesamtnetzwerks stärken. Schließlich verhindert ein guter Verkehrspolizist nicht nur präventiv Blockaden, sondern leitet den Verkehr auch zügig auf alternative Routen um, wenn eine der Kreuzungen unerwartet zusammenbricht. Einzelne Ausfälle und Störungen wären für die Produktion dann weniger belastend.
Die Hoffnungen, die auf Time-Sensitive Networking lasten, sind groß. IT/OT-Konvergenz ist das Schlagwort, das besonders häufig zu hören ist. Die datenintensiven Anwendungen aus der Informationstechnologie und die zeitkritischen Anwendungen aus der Betriebstechnik könnten sich durch TSN zusammenführen lassen. Eine geschlossene Produktionsinsel. Hocheffiziente Abläufe. Schnelle Anpassungen an neue Marktbedingungen. Vielleicht ist das aber auch erst der Anfang. »Sobald der Funk deterministisch ist, kann man weiterdenken, dann öffnen sich plötzlich ganz neue Visionen«, sagt Frank Burkhardt. Jede Maschine mit einer eigenen Basisstation. AGVs, die als mobile Basisstationen durch die Halle flitzen. Hyper-Konnektivität. 6G. Das Netz der Netze. Und mittendrin ein Verkehrspolizist, der für Ordnung sorgt.