Für die Nutzung der Gasinfrastruktur werden zwei Szenarien diskutiert: Wasserstoff könnte dem Erdgas beigemischt werden und Gasnetze könnten komplett für Wasserstoff umgewidmet werden. Was sind die jeweiligen Vorteile der beiden Szenarien?
Hüwener: Grundsätzlich sind verschiedene Arten denkbar: Der Transport von 100 Prozent Wasserstoff, die Beimischung von Wasserstoff zum Erdgasstrom und die Methanisierung vor der Beimischung. Man sollte hier nicht schwarz-weiß denken, sondern technologieoffen sein. Für große Mengen von Wasserstoff ist langfristig sicherlich ein 100-Prozent-Transport angesagt, da insbesondere die Stahlindustrie, die Chemie- und Zementindustrie und auch der Schwerlastverkehr große Abnehmer für reinen Wasserstoff sein werden. Nichtsdestotrotz ist auch die Beimischung ein großes Thema. Pauschal würde ich dazu sagen: Eine Beimischung von fünf Prozent im Fernnetz und bis 20 Prozent im Verteilnetz sind sicherlich denkbar um zum Beispiel auch den Wärmemarkt mit grüner Energie zu versorgen.
Martin: Langfristig muss man sicherlich auch über neue Konzepte nachdenken – wie etwa die Möglichkeit, eine kleinere Gasleitung für Wasserstoff neben oder gar in eine bestehende Gasleitung zu implementieren. So werden die bestehenden Infrastrukturen mit genutzt, was deutlich kostengünstiger ist und die Umwelt nicht zusätzlich belastet. Das ist alles noch in der Phase, in der es verschiedene Tests und Realversuche gibt – und in der es noch nicht entschieden ist, was sich am Ende des Tages durchsetzen wird.
Wie verändern denn die spezifischen Eigenschaften des Wasserstoffs die Anforderungen an die Leitungen und den Betrieb dieser?
Hüwener: Die gute Nachricht: Die Gasleitungen können genutzt werden. Es sind allerdings Anpassungen nötig. Die Herausforderungen liegen vor allem in der Dichtheit des Systems – insbesondere bei den Armaturen für die Leitungen. Zwar besteht noch Forschungsbedarf, allerdings scheint das beherrschbar zu sein. Bei Zumischungen von Wasserstoff über fünf bis zehn Prozent wird man jedoch ein neues Verdichter-Design benötigen.
Und worin bestehen die zentralen Herausforderungen, wenn in die bestehende Gasinfrastruktur Wasserstoff integriert wird?
Hüwener: Das Systemdesign auf der Strom- und Gasseite muss miteinander verbunden werden, wir brauchen gemeinsame Netzentwicklungspläne. Die größten Herausforderungen sind zunächst allerdings die politisch-regulatorischen. Die Bundesregierung ist da schon erste gute Schritte gegangen mit der Anpassung des Energiewirtschaftsgesetzes: Dieses erlaubt, Wasserstoff in bestehenden Erdgasleitungen zu transportieren. Der politische Rahmen muss jetzt so ausgestaltet werden, dass diese Riesentransformation des Energiesystems bezahlbar bleibt und wir Investoren nach Deutschland locken.
Welche Lösungsansätze gibt es hierfür seitens der Industrie und seitens der Forschung? Und wie arbeiten Sie zusammen?
Martin: Wir arbeiten auf unterschiedlichen Ebenen seit 20 Jahren mit OGE zusammen. Bereits zu Beginn haben wir schon angefangen, Optimierungsfragestellungen zu adressieren, die damals noch nicht beantwortbar waren. Doch heute haben wir Optimierungsmethoden und Simulationen entwickelt, die OGE in Echtzeit Lösungsvorschläge für Betriebsparameter und -strategien machen. Eine solche Entwicklung geht natürlich nur im direkten und kontinuierlichen Austausch mit den Praxispartnern – schließlich liegen unsere Kompetenzen als Mathematikerinnen und Mathematiker weniger in der Praxis als vielmehr in der Entwicklung der Methoden und Verfahren. Bringt man unser Know-how und die Praxiserfahrung der Anwender in Verbindung, entstehen echte Mehrwerte.
Für Planung und Betrieb sind methodische Grundlagen und empirische Untersuchungen erforderlich. Können algorithmische Lösungen oder Künstliche Intelligenz hier helfen?
Martin: Einen Mehrwert kann man nur dann generieren, wenn relevante Daten in großer Menge zur Verfügung stehen – und zwar in Echtzeit. Wir müssen die digitale Welt beim Aufbau der Infrastruktur daher gleich mitdenken. Wichtig ist das insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Dynamik der Systeme durch die Mischung der Energieträger zunimmt. Diese Dynamik zu beherrschen ist eine große Herausforderung von algorithmischer und methodischer Seite. Über die Digitalisierung lassen sich solche dynamischen Prozesse auch mit den heutigen Methoden gut erfassen. Wenn die Daten in Echtzeit zur Verfügung stehen und man parallel einen Digitalen Zwilling hat, dann befinden sich die virtuelle und die reale Welt im Gleichklang.
Wir am Fraunhofer IIS sind aktuell an der Entwicklung eines Tools beteiligt, das eine systemische Planung – Strom und Gas – optimieren kann und dabei sowohl ganzzahlige Entscheidungen als auch eine adäquate Modellierung der Physik beinhaltet. Mit qualitativ hochwertigen Echtzeitdaten wird aufbauend auf diesem Tool auch ein optimierter Betrieb möglich. Daraus können Entscheidungsvorlagen erstellt werden, so dass Sie, Herr Hüwener, am Ende die nachhaltigeren und besseren Entscheidungen treffen können.
Hüwener: Da sprechen Sie mir aus der Seele. Das Systemdesign und insbesondere die Interaktion von Strom und Gas zu entwickeln, ist eine der größten Herausforderungen. Meines Wissens gibt es da noch nicht das eine Tool am Markt, das das richtig kann. Ein solches Tool brauchen wir – da gibt es noch großen Forschungsbedarf.
Könnten heute schon Teile des Gasnetzes für Wasserstoff umgewidmet werden?
Hüwener: Für den Transport von 100 Prozent Wasserstoff können wir z.B. einige Leitungen nutzen, die heute L-Gas transportieren und perspektivisch für eine alternative Nutzung zur Verfügung stehen können, da die L-Gas-Mengen bis zum Jahre 2030 rückläufig sind und anschließend ausschließlich H-Gas genutzt wird. Zusammen mit dem TÜV haben wir dezidierte Studien für mindestens sieben längere Leitungsabschnitte gemacht: Wir wissen also genau, wie diese umzustellen sind. In einer Zeit von zwei bis drei Jahren ab Startschuss hätten wir diese großvolumigen Leitungen für den Wasserstofftransport zur Verfügung. Was die Beimischung von Wasserstoff angeht: Im Emsland realisieren wir geradeeine Wasserstoffeinspeisung.
Blicken wir in die Zukunft: Ab wann, denken Sie, wird es möglich sein, in Deutschland mehrheitlich Wasserstoff durch bisherige Gasleitungen zu transportieren?
Hüwener: Bereits jetzt ist es technisch machbar, großvolumige Leitungen innerhalb weniger Jahre auf Wasserstoff umzustellen. Die Frage ist: Welche Dinge sind politisch gewollt? Und welche Mengen an Wasserstoff stehen zur Verfügung? Ich denke, dass wir hier einen evolutionären Prozess erleben werden. Bis 2030 werden die deutschen Fernleitungsnetzbetreiber ein Netz von 5100 km Länge für den Transport von ca. 70 TWh Wasserstoff zur Verfügung stellen können, was die geplanten Mengenszenarien der Dena-Leitstudie voll abdeckt.
Martin: Wie Herr Hüwener schon sagt, handelt es sich um einen kontinuierlichen Prozess. Dies bedeutet, dass der Umbau der bestehenden Gasinfrastruktur für den Transport von Wasserstoff während des laufenden Betriebs erfolgen muss, ohne die Energieversorgung der Wirtschaft mit Erdgas zu gefährden. Das birgt zusätzliche Herausforderungen, die gelöst werden müssen, aber auch gelöst werden können.
Wie bewerten Sie einen zukünftigen Energietransport durch Wasserstofftransportnetze an Stelle von Überlandleitungen? Wie werden diese zwei Varianten interagieren? Können Wasserstoffpipelines zumindest teilweise elektrische Transportnetze ersetzen?
Martin: Man muss ganzheitlich auf das System schauen: Es wird Situationen geben, wo Wasserstoff aus den Pipelines klar zu bevorzugen ist und es wird auch noch lange Zeit Kunden geben, die Erdgas benötigen. Denn der hohen Zahl an potenziellen Anwendern von Wasserstoff stehen gegenwärtig noch eine begrenzte Verfügbarkeit und hohe Erzeugungskosten entgegen. So wird besonders in der Entwicklungsphase einer Wasserstoffwirtschaft eine Priorisierung von Sektoren, welche ein besonders hohes Emissionsreduktionspotenzial aufweisen, erforderlich sein. Sektoren mit geringerem Emissionsreduktionspotenzial werden zumindest kurz- und mittelfristig weiterhin mit Erdgas versorgt werden müssen.
Hinzu kommt der Strom aus regenerativen Energiequellen, der natürlich weiterhin seine Abnehmer haben wird. Dies betrifft vor allem Sektoren, die bereits elektrifiziert sind oder sich zukünftig gut elektrifizieren lassen, da Strom aus regenerativen Energiequellen im Vergleich zu Wasserstoff geringere Umwandlungsverluste aufweisen.
Bei der Wasserstoffherstellung mittels Elektrolyse gehen über 40 Prozent der wertvollen elektrischen Energie verloren, weswegen sich Wasserstoff vor allem in Sektoren zum Einsatz kommen wird, die sich nur schwer mit elektrischer Energie versorgen lassen. Hierbei ist beispielsweise der Schwerlastverkehr zu nennen.
Wichtig ist daher, sich nicht auf eine einzigen Versorgungspfad zu limitieren, sondern den optimalen Energiemix zu realisieren, der möglichst kosteneffizient und klimaneutral ist.
Die Voraussetzungen sind da, man muss sich weiter auf den Weg machen, diesen kontinuierlichen Prozess zu gestalten.
Redakteurin: Dr. Janine van Ackeren